Heucheln hilft uns nicht! Wir müssen streiten!

Prof. Patzelt sprach zum Thema „Hypermoral und Empörungskultur“

 

Zum Sommergespräch von Christian Piwarz war gestern im Alttolkewitzer Hof der emeritierte Politikwissenschaftler Prof. Werner J. Patzelt zu Gast. Patzelt umriss seine Sicht auf das Thema und analysierte scharfzüngig wie unterhaltsam die Fehlentwicklung in der heutigen Debattenkultur. Moral sei grundsätzlich gut, auch das Zurechtweisen bei moralischen Verfehlungen sei grundsätzlich zu begrüßen. Doch zu viel vom Guten könne dazu führen, dass Moral nicht mehr Richtschnur des Handelns, sondern einen absoluten und unantastbaren Charakter erhalte. Besonders die so aufkeimende „kommunikative Gewaltanwendung“ sei innerhalb der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu kritisieren. Patzelt betonte, dass eine pluralistische Gesellschaft auf Streit gründet – und auf der Bereitschaft zum Perspektivwechsel.


Es sei längst soweit, dass nicht mehr die sachliche Richtigkeit von Behauptungen zähle. Vielmehr zählt, ob es moralisch wünschenswert wäre, wenn eine Aussage tatsächlich korrekt wäre. Die wichtige Trennung zwischen Aussagen als Tatsache einerseits und wertenden Aussagen andererseits werden aber zum Nachteil der Wahrheitsfindung vermengt. Auch sei nicht selten zu beobachten, dass Einladungen von Referenten und Diskutanten in Talkshows nach Positionen, nicht jedoch in erster Linie nach Sachkundigkeit ausgesprochen würden. In vielen öffentlichen Gesprächssituationen gäbe es zudem ein regelrechtes Warten auf den Fauxpas des Rivalen – um diesen dann als illegitimen Diskursteilnehmer auszugrenzen.

 

Dies führe zu einem Auseinanderklaffen des Denkens und Redens. So verlören die politischen Debatten zunehmend die Bodenhaftung: Es ist nicht mehr klar, was wer wirklich denkt. „Unter uns“ spräche man anders, als öffentlich. Im Ergebnis wirkten viele Debatten „steril“. Zudem verliefe Politik unweigerlich nach dem Freund-Feind-Schema, nicht nach dem der Rivalität und Konkurrenz – wie es eigentlich wünschenswert und der Demokratie angemessen wäre.

Patzelt trat nachdrücklich dafür ein, den politischen Nahkampf zu suchen. Ein pluralistisches System basiert gerade auf Meinungsvielfalt und dem argumentativen Streit. Patzelts Resümee lautete: Heucheln hilft uns nicht! Wir müssen streiten! Damit könne jeder Bürger und jeder Politiker gleich anfangen – am besten, wenn er nach der Regel verführe: Die Kommunikation soll nur durch den Kommunikationspartner, nicht einen selbst scheitern. Das heißt, selbst sollte man die Ethik des Diskurses nicht verletzt. Zuhören und auch mal die Perspektive wechseln sei ebenso unabdingbar für einen produktiven Streit wie den Austausch von Argumenten nicht auf die persönliche Ebene abgleiten zu lassen.

 

In der anschließenden Diskussion mit den über 150 Bürgern ging es u.a. um Kontaktmöglichkeiten mit Politikern, Sicherheit, Medienkompetenz in der Schule und die Einführung einer Allgemeinen Dienstpflicht für junge Menschen (als Ersatz zur Wehrpflicht). Im weiteren Verlauf wurde auch über die Koalitionspolitik nach der Sächsischen Landtagswahl diskutiert. Christian Piwarz stellte hierzu erneut klar, dass „die AfD in dem derzeitigen Zustand für die CDU nicht koalitionsfähig ist. Die Haltung der AfD zur freiheitlich demokratischen Grundordnung ist unklar. Zudem hat sich die AfD in den vergangenen fünf Jahren im Sächsischen Landtag stets weiter radikalisiert.“ Dennoch, so Piwarz, werde er die AfD und ihre Wähler nicht ausgrenzen, sondern mit diesen beharrlich um die besseren Alternativen streiten. Dazu bot der Abend reichlich Gelegenheit: bei einem offenen Diskussionsklima – während und nach der Veranstaltung. Bis weit in den Abend nutzten die Bürger die Gelegenheit mit Christian Piwarz und Prof. Patzelt ins Gespräch zu kommen.

 

Zur Person: Werner J. Patzelt ist Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft. Er wurde dieses Jahr emeritiert. Er forschte kontrovers zu Pegida und die AfD und meldete sich in Funk und Fernsehen kritisch zum Zeitgeschehen zu Wort. Bereits mit seiner Dissertation, erschienen 1987, befasste er sich mit kommunikativen Ausgrenzungsprozessen. (ef)